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Die TÖDDEN. Wanderhändler aus Westfallen                                                                                                

1. WORT UND BEGRIFF "TÖDDEN"

2. DIE TÖDDENDÖRFER

3. DIE ORGANISATION DES TÖDDENHANDELS

4. DIE TÖDDEN UND DIE OBRIGKEIT

5. VOM SESSHAFTWERDEN ZUM KONFEKTIONSHANDEL IM 19. JAHRHUNDERT

 

DIE TÖDDEN. WANDERHÄNDLER AUS WESTFALEN (17. BIS 19. JAHRHUNDERT)

Von Wilfried Reininghaus

1. WORT UND BEGRIFF "TÖDDEN"

Der heute gängige Begriff "Tödden" für eine Gruppe von Wanderhändlern des 17. bis 19. Jahrhunderts, die aus dem Raum zwischen Rheine, Osnabrück und Lingen kamen und Waren in Nord- und Nordwesteuropa verkauften, ist in zeitgenössischen Akten nicht zu finden. "Tödde" ist ein Wort aus der Geheimsprache dieser reisenden Kaufleute, die zur Blüte des Wanderhandels nach heutigem Wissen nie aufgezeichnet worden ist. Im amtlichen Schriftgut der Zeit hießen die Wanderhändler "Packenträger", "Lingensche Messerträger", "Hopster" oder im Niederländischen "Bonttrager". Erst um 1900 wurde die Geheimsprache der Tödden durch den Sprachwissenschaftler Friedrich Kluge und später durch Louis Stüve aufgezeichnet. Vor allem durch Stüves Arbeit über die Töddensprache hat sich der Begriff "Tödde" fest in in der orts- und landes-geschichtlichen Forschung eingebürgert. Er erscheint in lokalen Varianten u. a. als "Tiötte" oder "Tüödde".
Die sprachgeschichtliche Deutung des Wortes ist umstritten. Anklänge an das englische "to toddle" für "herumziehen" werden von fast allen Forschern betont. Im allgemeinen wertet man dies als Beleg für ein gemeingermanisches Wort, das auch von Wanderhändlern aus dem Overpelt zur Selbstbezeichnung benutzt wurde. Diese Hausierer aus dem heutigen belgisch-niederländischen Grenzgebiet um Hasselt nannten sich selbst "Teuten". Von ihnen ist bekannt, daß sie im 17. Jahrhundert in großer Zahl bis nach Westfalen, u.a. in das Tecklenburger Land zogen. Die Traditionen des 18. Jahrhunderts sprachen davon, daß der Handel der Tödden zuerst auf Brabant gezielt habe. Sie sollen wie die Teuten mit Roßhaar gehandelt haben. Beide Indizien werden gestützt durch den Befund der Sprachwissenschaftler, deren Untersuchungen in hohem Maße Übereinstimmungen zwischen der Geheimsprache der Teuten in Bra-bant und den Tödden in unserer Region ermittelt haben.
Die Tödden zählten zur Gruppe hausierender Kaufleute, die im frühneuzeitlichen Europa große Bedeutung für den Vertrieb der Waren besaßen. Ganze Dörfer hatten sich darauf spezialisiert, Waren, die selbst erzeugt oder eingekauft hatten, in entfernt liegenden Absatzgebieten zu verkaufen. Die Glashändler aus Böhmen und dem Schwarzwald, die thüringischen Siebmacher, die Spielzeugkrämer aus dem Grödnertal und aus partenkirchen, die Savoyarden und die Winterberger Sensenhändler sind wie die Tödden zu dieser Gruppe der Hausierer zu rechnen. Gemeinsam ist ihnen, daß sie weite Wege zum Konsumenten zurücklegten, dafür einige Entbehrungen auf sich nahmen und einen größeren Teil des Jahres außerhalb der Heimatregion verbrachten. Zu dieser Mobilität waren sie gezwungen, weil sich in der Heimatregion nur wenig Erwerbsmöglichkeiten boten.
Die Tödden können in diesen allgemeinen Erklärungszusammenhang einbezogen werden. Ihre Wanderungen nahmen den Ausgang in einer Region, in der vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg die Bevölkerung rasch wuchs und der Nahrungsspielraum eng wurde. Jener Ausweg, der für die ländliche Bevölkerung in weiten Teilen des benachbarten Fürstbistums Osnabrück und der Grafschaft Tecklen-burg bereitstand, nämlich die Leineweberei, kam für die Dörfer zwischen Brochterbeck im Süden und Freren im Norden nicht in Frage. Dort waren die natürlichen Voraussetzungen für den Anbau von Flachs oder Hanf nicht gegeben. Der sog. Kontributionsblaffert von 1688, eine Steuerliste der oranischen Landesherrn, weist z. B. für die beiden Töddendörfer Mettingen und Recke überwiegend mittlere und schlechte Qualität des Bodens aus. Eine Mettinger Petition von 1725 bezeichnete das Land als unfruchtbar, sandig und sumpfig, man könne kaum Getreide, erst recht nicht Flachs oder Hanf dort anbauen. Es verwundert daher nicht, wenn die Statistik der webstühle im Kreis Tecklenburg 1827 für Lengering 709 und Westerkappeln 657 Webstühle ausweist, für Mettingen jedoch nur 60, Recke 37 und Hopsten 11 Webstühle,
Den nicht vollbäuerlichen Schichten dieser Dörfer, den Heuerlingen und Brinkliggern, die sich von der Landwirtschaft allein nicht ernähren konnten, boten im 17. Jahrhundert die nördlichen Niederlande Arbeitsplätze und vergleichsweise hohe Löhne. Unter dem Sammelbegriff Hollandgänger wurden die verschiedenen Saisonarbeiter zusammengefaßt. Grasmäher, Torfstecher, Walfänger und Ziegler zogen in die nördlichen und westlichen Niederlande. Zwischen diesem Hollandgang und dem Wanderhandel der Tödden ist eine unmittelbare Beziehung nicht auszuschließen. Was im 18. Jahrhundert klar voneinander getrennt war, mag vor und während des Dreißigjährigen Krieges noch miteinander verbunden gewesen sein. Möglich ist, daß Hollandgänger Leinen aus dem Tecklenburgischen verkauft haben. Dazu steht allerdings im Widerspruch, daß die ältesten, freilich schon aus der Zeit um 1650 stammenden Belege für reisende Kaufleute aus den Töddendörfern ausdrücklich schon als Kaufleute bezeichnet werden. Letztlich kann die Frage der Entstehung des Wanderhandels aus Mangel an Quellen nicht definitiv beantwortet werden.

2. DIE TÖDDENDÖRFER

Die Gesamtzahl der Wanderhändler, die um 1800 aus der Grafschaft Lingen und den benachbarten Dörfern in den Bistümern Münster (Hopsten) und Osnabrück (Neuenkirchen) stammten, läßt sich nicht exakt ermitteln. Die Zählungen erstreckten sich nie über sämtliche Dörfer und bezogen sich jeweils auf andere Stichjahre. zudem wurden Hollandgänger und Packenträger nicht immer auseinandergehalten. Trotzdem kann nährungsweise die Zahl der Packenträger aus dieser Region bestimmt werden. 1750 wurden von ihnen in der Grafschaft Lingen 647 gezählt, hinzu kamen aus Hopsten nach Ausweis einer Bevölkerungszählung aus jenem Jahr 206 Kaufleute und Reisende. Die Gesamtzahl muß bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gestiegen sein, denn 1787 ermittelte die Regierung Lingen allein 640 Packenträger in den Kirchspielen Ibbenbüren, Recke, Mettingen und Brochterbeck. Im frühen 19. Jahrhundert ging der Anteil der Hausierer an der Gesamtbevölkerung zurück, obwohl 1829 in Mettingen und Recke immer noch 15 % aller Familien vom Wanderhandel lebten
Im Erscheinungsbild ihres Handels hoben sich die einzelnen Töddendörfer deutlich voneinander ab. Für Hopsten sind erste reisende Kaufleute 1640 nachzuweisen. In der Schatzlisten von 1660 sind 10 Kaufleute erwähnt, bis 1700 hat sich ihre Zahl vervielfacht. Ein Visitationsbericht von 1709 sprach von "multi et plurimi", dem Pfarrer wurde die Seelsorge der "mercatores vagantes" besonders nahegelegt. Unter knapp 2000 Einwohner gab es in Hopsten 1750 neun Kaufleute und 197 Packenträger, das waren 40% der männlichen Einwohner des Dorfes.
Hopsten, das sich wie ein Keil zwischen Unter- und Obergrafschaft Lingen schob, hatte im 18. Jahrhundert Schaden und Nutzen zugleich durch die preußische Politik. Der noch vor 1700 begonnene Verkauf des Ravensberger Leinens in Berlin und in der Mark Brandenburg durch Kaufleute aus Hopsten wurde nach und nach eingeschränkt. Dabei war "Höpster" zum Synonym für diese Form des Handels geworden. Ab 1745 machten die preußischen Behörden den Hausier-Handel für Ausländer in den mittleren Provinzen völlig unmöglich. Die Hopstener Kaufleute wichen entweder auf die nördlich vorgelagerten Territorien, Mecklenburg und Pommern, aus oder sie ließen sich in den Zielregionen nieder. Bereits um 1750 sollen "Höpster" im Magdeburgischen ansässig geworden sein. Hopsten profitierte andererseits erheblich von der restriktiven preußischen Politik. In Hopsten konnten die katholischen Händler aus Lingen ungestört ihren Gottesdienst feiern, hier waren sie auch vor Werbungen sicher. Zugleich entzog sich Hopsten dem Zugriff der preußischen Akzise. Deshalb war das Dorf um 1750 ein wichtiger Umschlagplatz.
Über den Hopstener Handel mit den Niederlanden sind wir weniger gut informiert. Er dürfte kaum weniger Bedeutung gehabt haben als der in östliche Richtung. Es ist sicher kein Zufall, daß die bekannte Annenkapelle 1731 von der Kompagnie Teeken, Pogge & Toussaint gestiftet wurde, die in Amsterdam eine Niederlassung besaß.
Das Protokoll einer Bereisung der Grafschaft Lingen ermittelte 1750 für Mettingen 153 Packenträger, von ihnen hatten 81 auf den Verkauf von Strümpfen, Mützen und Messern spezialisiert, 72 verkauften Leinen, Baumwolltuch, Nessel und Schnupftücher. 1787 war die Zahl auf 271 gestiegen. Bei einer Bevölkerungszahl von 2129 (1787) war jeder zweite Haushalt am Wanderhandel beteiligt. Die ältesten Spuren der Mettinger Tödden verlieren sich im 17. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert orientierte sich der Handel gleichgewichtig auf die Niederlande und die mittleren preußischen Provinzen. Besonders stark vertreten waren die Mettinger in den Poldergebieten nördlich des Ij in der Gegend um Hoorn und Alkmaar. Sie belieferten dort direkt die Bauern auf ihren Höfen. Ähnlich zogen sie in Friesland von Hof zu Hof, in den größeren Städten wie Leeuwarden und Sneek waren sie immer nur kurze Zeit, um ihre Warenvorräte zu ergänzen.
Mit der preußischen Obrigkeit lagen die Mettinger Tödden häufiger über Kreuz. Schon 1726 verließen einige von ihnen, Haarkäufer und Packenträger, wegen eines Streits bei Aufteilung der Markengründe den Ort. Spätestens 1730 hatten sich die Mettinger wie die Recker Tödden massiv in den Handel mit Ravensberger Leinen eingeschaltet. Sie erweiterten später das Sortiment und verkauften vor allem Schneidwaren.
Die ältesten Zeugnisse für Tödden aus Recke datieren von 1665. Ein gewisser Hermann Veldthuis war "op sijn koopenschap buyten landes gereyset". Im 18. Jahrhundert konzentrierte sich der Rekker Handel auf das mittlere und nördliche Deutschland. Zwar sind auch einige Recker Kompagnien in Friesland nachzuweisen, doch spielte der Handel mit den Niederlande ein deutlich geringere Rolle. Die meisten der 1750 bzw. 1787 nachgewiesenen Packenträger aus Recke (202 bzw. 216) zogen nach Nordosten. Recker waren in Lippe, Minden, Bückeburg, Braunschweig, vor allem aber in Mecklenburg und in Pommern nachzuweisen.
Unter den übrigen Töddendörfern kommt Schapen die größte Bedeutung zu. Im Hopstener Nachbarort hatten sich schon um 1700 mehrere Großhandlungen etabliert. Vor allem die Kompagnien von Vaalmann und Bruns sind zu nennen. Sie hatten sich auf den Einkauf von Textilien in Flandern und Brabant spezialisiert. Mit 152 Pakkenträgern war Schapen 1750 nächst Recke und Mettingen das wichtigste Töddendorf in der Grafschaft Lingen. In gleicher Konzentration finden wir sonst nirgends Tödden in der Grafschaft Lingen oder in den Nachbarterritorien. Die 122 Packenträger, die 1787 für das Kirchspiel Ibbenbüren nachzuweisen, verteilten sich auf neun Dörfer mit einem Schwerpunkt in Bockeraden.

3. DIE ORGANISATION DES TÖDDENHANDELS

In einer "Beschreibung der Grafschaften Tecklenburg und Lingen" wurden 1788 die Händler der Region in zwei Gruppen unterteilt: "Jeder von den in der Grafschaft wohnenden Großhändlern, welche ihre Waaren aus den Fabriken und Messen, mithin aus erster Hand nehmen, hat 2 bis 300 geringe Kaufleute an der Hand, an welche er die Waaren verkauft und von diesen auf dem Rücken durch Deutschland, Rußland, Schweden, Dänemark und Norwegen zum Verkauf herumgetragen werden". Andere Quellen bestätigen diese Beobachtung. Es erscheint deshalb gesichert, daß spätestens in der Mitte des 18. Jahrhundert einigen wenigen Großhändlern in den Töddendörfern Hunderte von Packenträger gegenüberstanden.
Die Großhändler besorgten den Einkauf während der Messen oder in den Manufakturen. Wir finden deshalb die Moormanns aus Mettingen in den, Geschäftsbüchern der Gebr. Bettmann in Frankfurt oder der Basler Seidenhändler. 1803 hießes über die Kompagniehandlung Theissen, Verkamp & Wesseling aus Hopsten, daß sie "englische Manufactur-Waaren, Wolltuchen und verschiedene andere Ellen-Waaren... direct von England, Holland, Bremen und Hamburg und anderen Fabriguen-Städten, auch von den Meßen zu Leipzig, Braunschweig und Franckfurt beziehen". Aus Hopsten stammte auch der 1702 geborene Theodor Wilhelm Anton Kümpers, der mit feinen Tuchen und Damast handelte. Sein Bruder Johann siedelte nach Rheine über, Johanns Enkel gründete dort 1834 die Baumwollweberei Kümpers & Timmerman.
Als sehr reich galt die Großhändlerfamilie Vaalmann aus Schapen, die durch mehrere Heiraten mit einer anderen Kaufmannsfamilie, den Bunkes aus Steinbeck bei Recke, verwandt war. Johann Heinrich Vaalmanns Vermögen wurde amtlich am Ende des 18. Jahrhundert auf 100.000 Rtlr. geschätzt.
Den Mettinger Familien ten Brink und Moormann ging schon unter Zeitgenossen der Ruf voraus, außergewöhnlich vermögend zu sein. Auszüge aus Leeuwardener Prozeßakten zeigen, daß Jan ten Brink & Co. in den 1780er Jahren Stoffe aller europäischen Textilregionen auf Lager hatte. Die Moormanns eröffneten neue Perspektiven durch das Engagement in der Produktion. Joseph Moormann, verheiratet mit Agnes ten Brink, besaß bis 1818 eine Lakenmanufaktur in Leiden, die wiederum nach Lingen lieferte. Die ten Brinks gründeten in Mettingen eine Tabakmanufaktur, die allerdings im Gegensatz zu dem Konkurs ihres Handelsunternehmens keine große Spuren hinterlassen hat. Der spektakuläre Konkurs aus dem Jahre 1812 war teilweise selbstverschuldet, teilweise Resultat der Kontinentalsperre. Vor 1810 hatte die Firma ten Brink & Co. trotz der riskanten politischen Lage größere Warenmengen über Amsterdam nach England, Nord- und Südamerika geliefert. Zahlungen für diese Lieferungen gingen nicht mehr ein. Im Märzt 1811 bot Jan ten Brink den Gläubigern eine Quote von 35 % ihrer Forderungen, der Rest der Gesamtschuld war durch dubiose Aktiva in Übersee gedeckt. Da 10 % der Gläubiger diesem Vergleich nicht zustimmten, mußte nach dem strengen französischen Konkursrecht 1812 das förmliche Fallissement eröffnet werden. Fast 20 Jahre zog sich dann die Abwicklung dieses Konkurses hin.
Zwischen Packenträgern und Großhändlern bestanden enge Abhängigkeitsverhältnisse. Die Großhändler lagerten sowohl in ihrer Heimatregion als auch in den Niederlanden Waren und gaben sie an die Packenträger in kleineren Mengen aus. Bekannt war das Lager von Bunke bei Recke. Einem Bericht von 1787 zufolge zahlten die Packenträger bei Barzahlung 5 % Provision an die Großhändler, beanspruchten sie Kredit, mußten sie 10 % Zinsen zahlen. Über die Kreditverbindlichkeiten hinaus waren Großhändler und Packenträger meistens noch weiter miteinander verflochten. So stellte sich beim Konkurs der Packenträger-Kompagnie Rahe & Telsemever in Hoorn 1790 heraus, die Kompagnie ausschließlich Waren des Mettinger Großhändlers Conrad Moormann vertrieb, Rahe & Telsemever die Funktion von Reisenden für Moormann übernommen hatten.
In den östlichen Absatzgebieten trat die Bindung an die Großhändler nicht so stark hervor. Häufig bezogen die Packenträger direkt ihre Waren von den Manufakturen der mittleren preußischen Provinzen. Sie kauften Messer in Neustadt-Eberswalde, Schnallen in Wriezen, Strümpfe in Halle und Porzellan in Berlin aus. Für die einzelnen Manufakturbesitzer war der Vertrieb durch Packen-träger sehr wichtig. Zwischen 1786 und 1790 sind pro Jahr für 160.000 bis 200.000 Rtlr. Waren aus Manufakturen durch die Pakkenträger verkauft worden.
Der Handel der "Oberreicher" war in Kompagnien zu drei bis vier Personen organisiert. Das "Haupt" stand den "Burschen", das älteste Mitglied, das "Haupt" ,war in der Regel verheiratet, die "Burschen" noch ledig. In den Städten besaßen die Kompagnien kleinere Depots. Von dort aus zogen sie über Land, um direkt die Waren bei den Abnehmern zu verkaufen. Sie unterschieden sich damit von den seßhaften Kaufleuten, die in ihren Läden auf Kunden warteten. Die Mobilität erklärt den Verkaufserfolg der Tödden ebenso wie den Neid der Konkurrenten. Deren Vorwurf, die Packen-träger betrieben Schmuggel, ist in Einzelfällen genau zu belegen. Beobachtet wurde, daß Packenträger auf der Messe in Frankfurt (Oder) ausländische Waren, vor allem Baumwolltücher, Mützen und Strümpfe, eingekauft und anschließend unverzollt weiterverkauft haben. 1789 flog das Warenlager des Heinrich Lewetag aus Mettingen auf. Er hatte bei einem Brenner größere Mengen ungesiegelter, d.h. unverzollter Laken unter dem Bett des Vermieters versteckt.
Die Tödden reisten zu zwei Terminen. Zum ersten Mal verliefen sie März ihre Heimatdörfer, um Mitte Juli zurückzukehren, beim zweiten Hal waren sie von September bis Ende November unterwegs. Die beiden einzigen Monate, in denen sie sich in ihren Dörfern aufhielten, waren der Januar und der August. In beiden Monaten wurden die Familien- und Ortsfeste gefeiert. Ein Viertel aller Hochzeiten, die in Hettingen zwischen 1750 und 1799 geschlossen wurden, fiel in den Januar.
Das Alter der Tödden ist von A. Tepe anhand Hopstener Quellen untersucht worden. Die Masse von ihnen war zwischen 20 und 40 Jahren alt. Es war allerdings nicht unüblich, bereits mit 14 Jahren mit den älteren Verwandten auf Reise zu gehen. Mehr als die Hälfte der in den 1780er Jahren in Brandenburg kontrollierten Tödden war ledig und offenbar ohne jeglichen festen Besitz. Offenbar verheirateten sie sich erst, wenn sie "Haupt" einer Kompagnie geworden waren. Ein Viertel der Wanderhändler zählte zu den Heuer-lingen, nur die verbleibenden 20 % hatten als Brinksitzer, Neubauern oder Vollerben Land in nennenswertem Umfang.

4. DIE TÖDDEN UND DIE OBRIGKEIT

Die Hausierer im frühneuzeitlichen Europa mußten mit dem Argwohn der Obrigkeit rechnen. Sie wurden als umherziehendes Gesindel denunziert, ihnen unterstellte man Roßtäuscherei und Diebstahl. Tiefere Wurzel des Mißtrauens waren ökonomische Gründe. Die Hausierer zogen den Neid der städtischen Kaufleute und Handwerker auf sich, die als steuerzahlende Bürger bei ihren jeweiligen Landesherrn um Schutz vor den "ausländischen" Konkurrenten nachsuchten.
In den Zielregionen der Tödden, vor allem in den Niederlanden, waren schon während und nach dem Dreißigjährigen Krieg Edikte gegen "Ketellopers" und andere herumziehende Handwerker und Händler erlassen worden. Ernsthafte Sanktionen brauchten die Wanderhändler jedoch nicht zu befürchten, weil die Verbote leicht zu umgehen waren. Auch der erste preußische Schritt, den Handel der "Höpster", wie sie damals hießen, einzuschränken, verpuffte zwischen 1716 und 1720. Dank der Fürsprache der Bielefelder Leinenhändler, die sich um ihren Absatz sorgten, erreichten die "Höpster" 1718, daß sie vom verschärften brandenburgischen Hau-sieredikt von 1716 freigestellt wurden. Gleichzeitig versuchten die preußischen Behörden jedoch, die Wanderhändler zu ersetzen, indem sie die einheimischen Kaufleute anhielten, Lager mit ra-vensbergischem Leinen zu halten. An solcher Lagerhaltung waren die städtischen Kaufleute jedoch nicht interessiert, sie hätte auch am Kernproblem des Töddenhandels vorbeigezielt. Denn die Abnehmer des Leinens und der anderen Artikel saßen auf dem Lande und wurden dort von den Tödden aufgesucht. Diese Verkaufsreisen setzten sie fort, trotz der heftigen Proteste der Kaufmannschaft zwischen Magdeburg und Königsberg und trotz der bestehenden Verbote. Seit 1725 war allen Hausierern, auch denen aus Oberlingen, untersagt, außerhalb der Jahrmärkte auf dem Lande umherzuziehen. Jedoch blockte erst das 1746 ausgesprochene generelle Verbot, westfälische und holländische Leinwand in die mittleren Provinzen einzuführen, diesen Zweig des Handels ab.
Überflüssig wurden die Tödden dadurch nicht. Auch in einer an merkantilistischen Prinzipien verschriebenen Politik kam ihnen wichtige Funktionen zu. Das erneuerte Hausiereredikt von 1747 nahm wiederum die Lingenschen Händler aus und erlaubte ihnen Handel zu treiben, sofern sie jährlich Handlungspässe lösen und den "inländischen Fabriken" sicheren Absatz verschaffen. Damit war "ein ziemlich weitgehender Hausirhandel in der Chur- und Neumark, den Herzogthümern Magdeburg und Pommern und dem Fürstenthun Halberstadt" auf gesetzlicher Grundlage möglich geworden.
Besondere Beziehungen entwickelten sich zur Manufaktur in Ebers-walde, die mit dem Kapital des Berliner Hauses Splitgerber & Daum Messer und andere Metallwaren herstellte. Aus dem Verkauf Ebers-walder Produkte entwickelte sich die Namensgebung "Lingensche Messerträger". Auf der Grundlage von 1747 blieb der Handel der Tödden einige Jahrzehnte unangefochten. Erst in den 1780er Jahren attackierten die städtischen Kaufleute erneut ihre Konkurrnenten. Gegenüber die Bürokratie argumentierten sie, die Hausierer schleppten unverzollt Waren ein und betrieben Schleichhandel. Dies verschaffte ihnen Gehör beim Generaldirektorium, das lange Erhebungen zum Lingenschen Wanderhandel östlich der Weser durchführte und das 1786 und nochmals 1794 das Hausieredikt novellierte.
1786 wurden die Linzenschen Messerträger aufgefordert, ihre Warenlager in akzisebare Städte zu verlegen, wo ihr Handel durch Kontrolleure beaufsichtigt werden konnte. Außerdem durften auf einem Hausierpaß nicht mehr als ein ausdrücklich benannter Händler reisen. 1794 verschärften sich diese Bestimmungen noch einmal. Die Messerträger durften tatsächlich nur noch Metallwaren in den Städten verkaufen; die Ansiedlung in den Städten wurde ihnen zur Pflicht gemacht, die Tödden mußten dort Bürgerrecht erwerben. Genaue und strenge Ausführungsbestimmungen sollten künftigen Mißbrauch verhindern.
Die norddeutschen Territorialstaaten gingen in der Theorie ähnlich streng gegen die Hausierer vor, praktisch handhabten sie jedoch die Kontrolle weniger effizient als Preußen. Nach dem Siebenjährigen Krieg häuften sich die Verordnungen gegen die Wanderhändler, z. B. in Hannover und Oldenburg. Bei der ländlichen Bevölkerung stießen die Verbote auf wenig Gegenliebe. Im Butjadinger Land forderte man 1766/67 massiv die Aufhebung des Hausierverbotes. "Zuflucht" fanden die Tödden in Schleswig, Holstein und Mecklenburg, wo die Verbote am leichtesten zu umgehen waren.
In Friesland und in der Provinz Groningen hatte es schon um 1700 Versuche gegeben, den Wanderhandel einzuschränken. Die Hausierer gerieten jedoch erst in Bedrängnis, als der Glanz des Goldenen Zeitalters der Niederlande verblaßte und protektionistische Maßnahmen der Stagnation entgegenwirken sollten. 1749 klagten die Leeuwardener Kaufmannsgilde im friesischen Landtag über die fremden Textilhändler, die beträchtliches Kapital führten. In ihr eigenes Statut nahm die Gilde 1759 auf, daß auswärtige Kaufleute wenigstens eine Abgabe an sie entrichten mußten. Das reichte nicht aus, um die Importe einzuschränken. Die Zahl der Händler, die durch Friesland zogen und die Bauern belieferten, wuchs. Aus Sicht Leeuwardens waren deren niedrige Preise besonders verwerflich. Sie verkauften angeblich Brabanter Spitzen, Seide und Florettleinen für zwei statt für sechs Gulden.
Das Edikt vom 3. April 1771, das aufgrund dieser und anderer Klagen erlassen wurde, markierte eine Wende. Es legte fest, daß fremde Kaufleute in Friesland eine feste Wohnung halten und hier Kopfsteuer und Schornsteingeld zu bezahlen hatten. 1785 wurde das Hausierverbot noch einmal verschärft. Es waren u.a. Klage geführt worden über Gerhard [Gerrit] ten Brink, Gerhard [Gerrit] und Bernd Berkmeier aus Mettingen geführt worden. Sneek folgte dem verschärften Leeuwardener Kurs gegen die Tödden erst 1787 und verfügte erst dann, daß alle Packentrager ihre Waren ohne Bürgerrecht nicht langer in Sneek verkaufen dürfen.

5. VOM SESSHAFTWERDEN ZUM KONFEKTIONSHANDEL IM 19. JAHRHUNDERT

Der Übergang vom Hausieren zum stationären Einzelhandel mit Textilien ist nur als ein Prozeß zu verstehen, der sich über ein Jahrhundert vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1880er Jahre erstreckte. Die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen die Tödden leiteten diesen Prozeß ein. Die Wanderhändler wurden gezwungen, Bürgerrecht in ihren Zielorten zu erwerben. Dort waren Sitz und Kontor ihrer Fifmen. Zwischen Holland und Pommern schlugen die westfälischen Kaufleute aber lange nicht allzutiefe Wurzeln. Sie suchten ihre Heiratspartner weiterhin in den Heimatdörfern, wo dann,Frau und Kinder wohnen blieben. Wie seit langem kamen die Männer auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Januar / Februar und im Juli / August nach Hopsten, Mettingen oder Recke. Nur hier konnten die Kinder eine katholische Erziehung erhalten, in den protestantischen Zielorten gab es in jener Zeit meistens noch keine katholischen Gemeinden. Häufig kehrten die Kaufleute im Alter in ihre Heimat zurück, in der sie dann auf in den Familienbegräbnissen ihre letzte Ruhe fanden.
Ein bezeichnendes Licht auf die Trennung der Familien wirft der Konflikt zwischen Heinrich Busemeyer und der Stadt Lage. 1843 wollte der Magistrat Busemeyers Kompagnons das Bürgerrecht verweigern, weil ihre Frauen nicht bereit waren, mit nach Lippe zu ziehen. Busemeyers geharnischtes Antwortschreiben, durch Rickelmeyer überliefert, verdient zitiert zu werden: "Ob ich eine Frau habe, geht keinen was an, noch weniger aber, wo sie wohnt... Das Geschwätz vom Wohl der Bürgerschaft, Zersplitterung des Vermögens un dergi(eichen) wird niemand blenden...Kurz und gut: unsere Frauen bleiben, wo sie sind".
Eine vorzügliche Quelle für die Verteilung der Kontore der Händler aus dem neuen Kreis Tecklenburg über das nördliche Deutschland und die Niederlande bietet die "Merkantilische Adress-Sammlung" des Friedrich Wilhelm Dicke, die 1834 erschien. Unter Ibbenbüren (2), Mettingen (13), Recke (16), Hopsten (8), Beyer-gern (5) und Riesenbeck (5) sind 49 Handelshäuser aufgeführt, die ihren Sitz nicht in Westfalen hatten. Die einzelnen Töddendörfer richteten mit ihren Sitz nach den alten Wanderrichtungen aus. Die Mettinger Händler konzentrierten sich mit den Niederlassungen auf Friesland und auf Nordholland. In Sneek saßen allein drei Kompagnien der Brenninkmeyers. Zwei Handlungen der Familie Voss hatten sich in Leeuwarden niedergelassen. Enkhuizen als Firmensitz nannten die Gebrüder Kösters, während die Gebrüder Covers die Nachbarort Medemblik gewählt hatten. Von 26 unter Recke 1832 geführten Adressen lagen 13 in Schleswig-Holstein und drei in den Niederlanden ! Besonderes Gewicht besaßen die Häuser Heege in Ge-esthacht, Gerdemann in Oldesloe und Terheyden in Eutin. Auch die Hopstener Adressen verweisen vor allem auf Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Daß sich B. C. Feldmann & Comp. aus Hopsten in Hamburg niedergelassen hatte, blieb die große Ausnahme. Die Masse der Tödden wurde in kleinen Städten seßhaft. Von dort war die Kundschaft auf dem Lande, auf die die Handlungen gegründet worden waren, am nächsten. Der Nachweis zu westfälischen Kaufleuten in den katholischen Gemeinden der Mark Brandenburg und in Pommern, den Pfarrer Eismann erstellte, verdeutlicht, daß 1834 nur ein kleinerer Teil der auswärtigen Firmen in den Töddendörfern erfaßt worden ist.
Die von Eismann beschriebene Gemeindegründungen, etwa in Wriezen (1845), Neustadt Eberswalde (1947) und Schwedt (1853), markieren eine weitere Etappe auf dem Weg zum stationären Textilwaren-Einzelhandel. Sobald eine katholische Gemeinde ins Leben gerufen war, konnte die Rückkehr nach Westfalen unterbleiben. Mit dem aufkommenden Eisenbahn-Zeitalter gab es weitere Motive, den Aufenthalt in der Heimat zu verkürzen, die nun schneller zu erreichen war. Ibbenbüren wurde seit 1856 Bahnhof der heimfahrenden und zurückkehrenden Händler. Die Eisenbahn machte aber zugleich den Handel über Land überflüssig. Gute und preiswerte Ware konnte nun auch in entfernte Gebiete schneller transportiert werden, als dies den Tödden möglich gewesen wäre.
Den endgültigen Schritt zur Assimilierung in der Zielregion bedeutete das Entstehen von Filialgeschäften in der Zielregion selbst. Zwischen 1860 und 1880 begann der Aufbau einer Kette von Textileinzelhandelsgeschäften, deren Kundschaft großstädtisches Publikum war. Am besten nachzuvollziehen ist dieser Vorgang in den Niederlanden. 1834 hatten Hermann Lampe, 1808 in Mettingen geboren und seit 1827 mit Antoinetta ten Brink von dort verheiratet, mit seinen Brüdern das Geschäft Gebr. Lampe in Sneek am Grooten Sand gegründet. Sie zogen von Sneek über die friesischen Dörfer. 1883 gründeten sie von Sneek aus eine Filiale in Amsterdam, um in der holländischen Metropole ein großstädtischen Publikum zu versorgen. Gleichzeitig bemühten sich die Mitglieder dieses Zweiges der Familie um den Erwerb der niederländischen Staatsangehörigkeit.
Noch früher, 1860, hatten sich die Gebr. Voß aus Leeuwarden / Mettingen in der Amsterdamer Warmoesstraat niedergelassen. Die Brenninkmeyers, die 1797 in Sneek Bürgerrecht erworben hatten, zogen nicht direkt von dort nach Amsterdam. Erste Zweigniederlassung der 1841 mit einem Kapital von 3.301 Gulden gegründeten Kompagnie Clemens & August Brenninkmeyer war 1881 Leeuwarden. Dreizehn Jahre später folgte die erste Filiale am Amsterdamer Nieuwendijk, dreißig Jahre später, 1911, die Filiale in Berlin.

 

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